Work Analysis

Ausdruck und Konstruktion


Mehrdeutigkeit im dritten Satz von Per Nørgårds Violinkonzert “Helle Nacht”

Von Anders Beyer

Per Nørgård hat vorläufig drei Konzerte für Solostreicher und Orchester geschrieben: “Between” (Violoncello) von 1985, “Remembering Child” (Bratsche) von 1986 und das Violinkonzert “Helle Nacht” von 1987. Die Titel sind nicht zufällig, sie beziehen sich alle auf das “Innere” der Werke. Das kann eine Stimmung sein oder ein Hinweis auf den Aufbau des Werks oder beides, wie es in “Helle Nacht” der Fall ist. Gerade dieses Verhältnis zwischen Ausdruck und Konstruktion bildet die “Kurbel” in diesem Artikel, was das musikalische Material und die Botschaft hinsichtlich der Ausdrucksweisen und Stimmungen, die aufgrund der Konstruktion des Bauwerks auftauchen, betrifft.

Über “Helle Nacht” schreibt Per Nørgård unter anderem im Vorwort zur Partitur: Ich habe mich entschieden, mein Violinkonzert “Helle Nacht” zu nennen, weil das sowohl etwas Über die Stimmung als auch über die Struktur der vier Sätze aussagt; auf der einen Seite sind Melodie, Klangfarbe und Rhythmus immer durchsichtig und zart miteinander verwoben (“hell”), auf der anderen Seite ist das Durchsichtige mehrdeutig und dunkel (“Nacht”), wie ein Prisma in Bewegung, das dem Zuhörer erlaubt, verschiedene Schichten in der Musik zu erfahren.

Mit dieser Beschreibung bekommen wir einen “Schlüssel” zum Werk, der benutzt werden kann, um einige Geheimnisse aufzuschlüsseln, die vielleicht nicht beim ersten Hören des Werks zu begreifen oder zu erfahren sind. Wer einen Einblick in Per Nørgårds musikalisches Universum gewinnen möchte, kommt nicht um die Diskussion sogenannter “Wahrnehmungsphänomene” herum, also wie wir strukturelle Zusammenhänge empfinden und erleben. Da wir voraussetzen, daß der Komponist mit uns kommunizieren möchte, können wir erwarten, daß sich in der Musik eine Art Ping-Pong-Spiel zwischen Sender und Empfänger abspielt. Der Komponist teilt sich in seiner ganz persönlichen “Sprache” mit, und wir können im besten Fall einige dieser Sprachblüten aufgreifen und überlegen, ob sie Eindruck machen oder nicht.

Diese Sender-Empfänger-Funktion der Musik hat Per Nørgård stets berücksichtigt. Aber die Werke für Solisten und Orchester fallen bemerkenswert spät in die Produktion des Komponisten: Nach der Erneuerung des musikalischen Materials in den sechziger und siebziger Jahren über das Ringen mit großen existentiellen Fragen in den achtziger Jahren, die um eine große Werkgruppe, stark inspiriert vom schizophrenen Künstler Adolf Wölfli, zentriert waren, begann Per Nørgård in den späten achtziger Jahren mit der Komposition der Solokonzerte.

Die Behauptung ist nicht von der Hand zu weisen, daß “Helle Nacht” nicht nur die Erfahrungen der vielen vorausgehenden Werke zusammenfaßt, sondern auch einen Wendepunkt in seiner musikalischen Produktion markiert. In seinem Werk hat Per Nørgård nämlich die eigenen Erfahrungen sozusagen mit den ganzen kompositorischen Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts verflochten. Der Nørgård-Spezialist Jørgen I. Jensen beschreibt den neuen Ausgangspunkt des Komponisten so: “Es ist, als ob Per Nørgård nun aus dem ganzen zwanzigsten Jahrhundert als einem gesammelten Strom schöpft – oder als ob die vielen ganz verschiedenen rhythmischen und melodischen Schichten in seinem Werk das musikalische Universum des zwanzigsten Jahrhunderts in neue Bewegung versetzen und es als eine seelische Erfahrung erschließen, eine neue mentale Aktivität, ein neu individualisiertes Erlebnis.

Im Laufe dieser langjährigen Entwicklung mit einer üppigen Vielfalt an musikalischen Ausdrucksformen haben die genannten Wahrnehmungsphänomene und -probleme immer einen herausragenden Platz eingenommen: ein Komponist, der etwas Wesentliches auf dem Herzen hat, muß die ganze Zeit eine Reihe von Fragen für Auge und Ohr bereithalten. Eine davon handelt sich um Informationsdichte: während der Komponist arbeitet, mag er sich Fragen stellen wie: Wie viele Informationen kann das Ohr erfassen? Welche komplizierten Strukturen und verschiedenen Schichten in der Musik kann das Ohr wahrnehmen? Und noch weitergehende Fragen sind: Für wen schreibe ich und warum? Und wir können uns selbst fragen, ob das Wissen über den Aufbau der Musik der Freude am Zuhören überhaupt zuträglich ist. Viele Fragen suchen Antworten. Diese und andere sind zentral in Verbindung mit Per Nørgårds Musik, und die Problemstellungen sind in der Musik für jeden wiederzufinden, der bereit ist zuzuhören und in die Partitur einzutauchen.

Per Nørgårds Violinkonzert “Helle Nacht”, 3. Satz, erste Seite.

Da das Violinkonzert “Helle Nacht” auf Compact Disc bei EMI (7 49869 2) eingespielt und die Partitur in der Edition Wilhelm Hansen veröffentlicht ist, bietet sich jetzt, wenige Jahre nach der Uraufführung des Werks, die Möglichkeit zu einer eingehenden Beschäftigung sowohl mit dem Klang als auch mit dem Notenbild. Hier wollen wir einen einzelnen Satz von “Helle Nacht” näher betrachten. Der fünf Minuten lange dritte Satz baut sich um drei Melodien herum auf, die drei verschiedene Schichten in der Musik bilden: “ein Gebet” (die gregorianische Melodie “Te lucis ante terminum”, die Per Nørgård auch im zweiten Satz des Bratschenkonzerts “Remembering Child” verwendet), “ein Ort” (die fast pentatonische schottische Melodie “Loch Lomond” und “eine Zeit” (das dänische Volkslied “En yndig og frydefuld sommertid”). In den folgenden drei Beispielen sind alle Melodien in der Tonart notiert, in der sie bei Per Nørgård vorkommen.

Per Nørgård spielt hier mit dem Umstand, daß der Hörer wahrscheinlich mindestens eine der drei Melodien kennt. Er kann dieses Material auf verschiedene Weisen präsentieren. Eine wichtige Frage, die wir in diesem Zusammenhang stellen können, lautet: Was hören wir als Vordergrund, und was hören wir als Hintergrund? Was wollte der Komponist als Wesentliches im Klangbild am weitesten nach vorn rücken und was wollte er als weniger Wichtiges in den Hintergrund stellen?

Im dritten Satz des Violinkonzerts wollte Per Norgärd eine Fluktuation zwischen den drei Schichten erreichen, einen ständigen Wechsel zwischen Vorder- und Hintergrund, wobei er mit dem Bekannten und dem Unbekannten spielt. Und durch ein genau kalkuliertes Verhältnis zwischen Tempo-Proportionen (die hier nicht näher behandelt werden sollen) vermeidet der Komponist, daß die drei Melodien übereinander erklingen und dadurch die Trennung während des Hörens unmöglich machen. Der Komponist ist somit seinen Hörern gegenüber in hohem Maße rücksichtsvoll: Er bringt Melodiestoff, den wir vermutlich teilweise kennen, er präsentiert das Material auf solche Weise, daß wir die Möglichkeit haben, es wiederzuerkennen. Aber gleichzeitig – und das ist wichtig – werden wir auch mit durch das tiefe Wasser gezogen, so daß die Ohren beim ersten Hören, bildlich gesprochen, voller Wasser sind.

Man könnte weiter fragen: Warum verwendet Per Nørgård schon existierendes Material? Ist es, weil Inspiration und Erfindungsgabe langsam nachlassen? Nein, der Komponist wollte gerade in diesem Werk mit den musikalischen Wurzeln unseres Kulturerbes spielen, dem Bekannten, das zu neuen Ufern aufbricht. Vielleicht ist in Wirklichkeit die Rede von einer subtilen Weiterentwicklung des reizenden “Guck-Guck-Spiel”-Phänomens, das wir bei allen kleinen Kindern beobachten können: Plötzlich ist da etwas Wohlbekanntes, das genauso plötzlich wieder verschwindet. Und darin liegt vielleicht gerade die Faszinationskraft von Per Nørgårds Musik: Wir werden an die Hand genommen und durch bekannte und unbekannte Landschaften geführt, wir werden erfreut und enttäuscht, aber wir sind nicht mehr dieselben, wenn das musikalische Abenteuer vorbei ist. Im besten Fall können wir neue musikalische Zusammenhänge besser hören, haben neue Einsichten erlangt, die uns den Weg zu einem umfassenderen Erlebnis des Werks bahnen.

Der dritte Satz des Violinkonzerts ist also so klug komponiert, daß man vielleicht schon beim ersten Durchhören einen Melodiestumpf oder eine Phrase wahrnehmen kann, die bekannt wirkt. Aber das Wiedererkennbare maskiert sich und entgleitet dem Bewußtsein wie ein nasses Stück Seife. Aber bei wiederholtem Durchhören kann man das Ohr trainieren, andere neue Melodien zu erfassen, und im besten Fall kann man selbst bestimmen, in welche Schicht man sich einklinken will. Es ist mit anderen Worten die Rede von einer bewußten Form des Hörens, bei der man sich allmählich so viel Wissen über das Innenleben und den Aufbau des Werks aneignen kann, daß das Vertraute umschlägt und zur bewußten Wahl des Hörorts wird, von dem aus eine der drei Melodien oder mehrere gleichzeitig wahrgenommen werden können.

Hier reicht uns der Komponist inzwischen wieder eine helfende Hand, indem er mit Hilfe verschiedener Betonungsverhältnisse die ganze Zeit unsere Aufmerksamkeit lenken kann, wie es im Violinkonzert geschieht. Wie sich bald zeigen wird, kann er sozusagen unsere Ohren an die Stelle, die wir hören sollen, dirigieren. Per Nørgårds Anliegen ist eine Mehrdeutigkeit, die veränderlich ist (siehe auch das Gegensatzpaar “Helle Nacht” im Titel), in der der Gegenstand von verschiedenen Seiten beleuchtet wird und das Erlebnis dem Blick in ein Kaleidoskop gleicht: Plötzlich verschwinden die bekannten Zusammenhänge und neue nehmen Form an.

Betrachten wir den Satz etwas näher. Schon am Anfang werden die verschiedenen Schichten in der Solostimme präsentiert.

Hier sind die drei Melodien ineinander verwoben und bilden dadurch zusammen eine neue Melodie mit einem etwas suchendem Tanzcharakter. Die erste Note D ist der Anfangston von “En yndig og frydefuld sommertid” (Notenbeispiel: dritte Schicht). “Loch Lomond” beginnt in der Solostimme auf dem Ton As mit dem ersten Schlag im zweiten Takt (zweite Schicht), und der gregorianische Gesang beginnt im ersten Takt auf dem Ton B (erste Schicht).

Eines ist wichtig anzumerken: Obwohl jede der drei Melodien selbständig ist, hat doch die Melodie, die aus ihnen zusammengesetzt wird, als ein autonomes Gebilde von einer ganz eigentümlichen Expressivität, erste Priorität.

Und weiter bemerken wir, daß Des-Dur (“Loch Lomond”) und G-Dur (“En yndig og frydefuld sommertid”) tritonus-verwandt sind, was bewirkt, daß es zwischen den Tonart-Flächen Trennungen aufgrund der Komplementarität der Tonarten gibt.

Wenn wir die erste Seite des dritten Satzes (siehe Seite 41) betrachten, können wir sehen, daß die Piccoloflöten, die Über der Solostimme liegen, “Loch Lomond” eine Quint oberhalb der Version der Solostimme spielen, und die Klarinette spielt “Te lucis ante terminum” im Terzabstand von der gleichen Melodie in der Solostimme.

Die Streicher spielen dagegen eine Ausdeutung dessen, was in der Solostimme vorgeht. Mit anderen Worten, ausschließlich Material aus den drei Melodien in der Solostimme. Der Orchestersatz ist aufgrund der Interferenzverhältnisse vibrierend und zitternd angelegt, das hohe Register ist hier eine Art verlängertes Echo der Solostimme. Siehe zum Beispiel den ersten Bratschenton D, dem Anfangston von “En yndig og frydefuld sommertid”, den ersten Violoncelloton Des, dem Beginn von “Te lucis ante terminum”, und das Gis der zweiten Violine, dem ersten Ton in .,Loch Lomond”.

Kurz vor Schluß des Satzes werden in der Solostimme drei Durchgänge, oder besser Ausschnitte aus den drei Melodien gebracht, in denen der Komponist die drei Schichten eine nach der anderen scharf einstellt. Das erreicht er mit Hilfe der gewählten Betonungsverhältnisse. der erste Durchgang ist auf die “Loch-Lomond”-Schicht zentriert, wobei die Melodien so notiert sind, daß der Anfangston der Auftakt zum betonten ersten Schlag ist, auf den der andere Ton As gesetzt ist (das ist nicht der Anfangston von “Loch Lomond”, da wir uns in der letzten Phase sowohl des Verlaufs von “Loch Lomond” als auch der anderen Melodien befinden.

Beim nächsten Durchgang tritt die zweite Strophe des Gesangs “Te lucis ante terminum” in den Vordergrund.

Endlich folgt eine schön ornamentierte Fassung von “En yndig og frydefuld sommertid”, wobei Per Nørgård sich entschieden hat, den B-Teil auf betontem Takt zu präsentieren.

Und der Satz schließt wirkungsvoll mit dem “Amen” (in der Flötenstimme) aus der gregorianischen Melodie “Te lucis ante terminum” (Vor Sonnenuntergang). Der Abschiedscharakter, der der Abendhymne innewohnt, wird hier benutzt. um den Satz ganz konkret zu beenden.

*

Im klassischen Solokonzert spricht man oft über Solisten und Orchester als Individuum gegenüber dem Kollektiv, wobei sich das Vorwärtsstreben des Werks um den Kampf zwischen diesen beiden “Instanzen” rankt. In “Helle Nacht” geht es eigentlich nicht um solches Kampfgebaren, sondern eher auch hier um eine mehrdeutige. bewegliche Schöpfung, indem sich der Solist in den Orchestersatz hineinwebt. aber in hohem Grad auch darauf besteht, daß er ein selbständiges “Ich” ist. Man kann sagen, daß es sich um einen Solisten oder ein “Ich” handelt, das Inspiration in der Umgebung sucht – und umgekehrt, wie es im dritten Satz der Fall ist, nämlich daß die Umgebung, der Orchestersatz, sozusagen auf den Solisten “abfärbt”, der die Erfahrungen wie eine Erzählung über eine persönliche Erlebnis- und Erinnerungswelt zum Ausdruck kommen läßt.

In fünf Minuten gelingt es dem Komponisten also, eine ganze kleine Welt aufzubauen. Aber diese Weit hängt ihrerseits, wie angedeutet, mit den anderen Welten oder Sätzen im Werk zusammen. Wenn man zum Beispiel in den zweiten Satz eintaucht, wird man entdecken, daß er eine Art Spiegelbild des dritten Satzes ist. Und diese zwei Mittelsätze werden von Ecksätzen eingerahmt, die wiederum neue Ganzheiten und Zusammenhänge bilden.

Das Paradox des dritten Satzes liegt darin. daß er trotz des heterogenen Materials von Anfang bis Ende linear konzipiert ist. Die Großform ist im voraus festgelegt. Die Leistung des Komponisten liegt im meisterhaften Spiel und der Überlagerung von Freiheit und Notwendigkeit.

In einer größeren Perspektive sagt dieses Werk uns, daß der Komponist sich nicht von den Modeströmungen der ästhetischen Theorien leiten läßt, die immer nur festgestellt haben, was man alles nicht tun darf. Eher läßt der Komponist sich in Form und Inhalt von seiner unmittelbaren Intuition, die auf entlegene Dinge zurückkommt, leiten, im dritten Satz des Violinkonzerts also durch das Zusammensetzen von drei schon existierenden Melodien. Alles musikalische Material ist von diesen drei Melodien abgeleitet, aber wohlgemerkt nicht als reine Collage. Der Komponist arbeitet immer als Komponist; die Melodien sind nicht übereinander geklatscht, sondern zusammen komponiert, durch sinnvolle Systeme und Techniken ineinander verwoben, so daß Ausdruck, und Konstruktion zwei Seiten einer Medaille bleiben.

© Anders Beyer 1993

Abgedruckt in MusikTexte 50, August 1993.

Überarbeitete Fassung des Artikels “En bøn, et sted, en tid – Flertydighed i 3. sats af Per Nørgårds violinkoncert “Helle Nacht”, in: “Musikken har ordet. 36 musikalske studier”. herausgegeben von Finn Gravesen, G. E. C. Gads Forlag. København 1993.